Das Märchen vom Mehr

Es war einmal ein Königreich, in dem es niemanden an nichts fehlte. Die Bürger dieses Landes hatten alles, was sie sich nur denken konnten. Aber zufriedener waren sie darum nicht. Im Gegenteil, je mehr sie besaßen, desto unstillbarer wurde ihr Verlangen, noch mehr zu besitzen.
Es war fast ein wenig unheimlich: „Mehr“, scholl es durch die Kaufhäuser. „Ihr braucht mehr Essen und Kleidung.“ „Mehr“ verhießen bunte Schilder und Plakate, mehr Wohlstand, mehr Glück. „Mehr“, betonten die Minister des Königs, „wir brauchen mehr Wachstum“. „Mehr“ versprachen die Schulmeister, mehr Wissen und mehr Bildung. Wo man auch hinsah, die Menschen wurden von immer mehr „Mehr“ überflutet. Ja, sie drohten schließlich in diesem „Mehr“ zu ertrinken. Was einmal als großes Versprechen begonnen hatte, wurde unmerklich zur Bedrohung. Weil aber alle immer mehr suchten, nutzten sie ihr ganzes Leben, um immer mehr zu bekommen - koste es, was es wolle. Und es kostete viel. Das ganze Königreich wurde Mittel zum Zweck. Menschen waren nicht mehr als Menschen interessant mit ihrem Lachen, ihrer Liebenswürdigkeit, ihren Träumen und ihren Tränen. Sie wurden zu Zahlen in Bilanzen. Die Natur wurde rücksichtslos benutzt und aufgebraucht. Die Schule diente in erster Linie der Vorbereitung des Geldverdienens. Aber, merkwürdig, je mehr die Menschen anhäuften, desto weniger wussten sie sich an ihrem Besitz zu freuen. Es gab immer mehr Gold, aber die Menschen empfanden immer weniger Glück. Es gab beinahe unbegrenztes Wissen, aber die Menschen verstanden immer weniger. Es gab immer mehr zu essen, aber der Hunger nach Leben wurde immer größer. 
Da geschah es eines Tages, dass der kleine König es satt hatte. „Es muss“ so meinte er, „im Leben doch mehr als dieses Mehr geben“ - und verweigerte, seine königliche Suppe zu essen. Die Minister und Höflinge hielten die Luft an. Das hatte es noch nicht gegeben. Ihr könnt euch sicher vorstellen, welch helle Aufregung herrschte! Der kleine König aber saß da, als ob ihm das alles gar nichts anginge, dachte nach und fand, dass es wie mit dem Atmen sei. Wer immer nur einatme und nie ausatme, müsse zwangsläufig irgendwann ersticken. „Es kommt nicht auf das „Mehr“ an“, sagte er sich, „sondern auf das Maß.“ Nicht einmal einem König bricht eine Zacke aus der Krone, wenn er bescheidener lebt. Im Gegenteil, Bescheidenheit ist eine königliche Kunst.“ So kam der kleine König auf den Geschmack des Verzichtens. Je einfacher er seine Tage gestaltete, desto erfüllter wurde sein Leben. Er konnte sich plötzlich wieder an einer Tasse heißen, dampfenden Kaffees freuen, der er seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Er genoss den Augenblick, machte ausgedehnte Spaziergänge und zog den frischen Atem tief in seine Lungen. Er nahm sich Zeit, in aller Ruhe ein Buch zu lesen, ein einzelnes Bild zu betrachten oder ein Gespräch zu führen. Je länger der König so lebte, desto anziehender wurde er für seine Untertanen. Sein Beispiel machte Schule. Schon bald war es eine Lust, in diesem Land zu leben, in dem tiefe Zufriedenheit und Freundlichkeit herrschten. Und wenn die Menschen in jenem Reich noch nicht ausgestorben sind, dann leben sie noch heute, um uns daran zu erinnern, dass weniger mehr ist und Verzichten reich macht.